Maria schreibt: “Hallo, ich werde bald ein Pferd/Isländer ausprobieren. Bin Angstreiterin. Worauf kann ich konkret achten? Steh mir manchmal selbst im Weg. Hätten Sie evtl. noch ein paar Tipps für mich. Das wäre toll. Danke vorab. Bester Gruss Maria
Hinweis: Dieser Artikel ist auch für Reiterinnen / Reiter geschrieben, die sich zwischendurch einmal ein ausgiebiges und aussagekräftiges Bild vom Wesen ihres Pferdes machen möchten.
Zuerst vom Boden aus Charakter und Verhalten beurteilen kann nie schaden
Ein fremdes Pferd zunächst vom Boden aus einzuschätzen, bevor Sie in den Sattel steigen, ist kein Zeichen von Ängstlichkeit. Im Gegenteil! Es zeugt von:
- Respekt gegenüber einem Lebewesen, das Ihr Leben bereichern aber auch vermiesen kann.
- Wissen und Erfahrung, wie Menschen von Pferden eingeschätzt werden und was dies für die Zusammenarbeit bedeutet.
- Selbstbewusstsein gegenüber dem Verkäufer des Pferdes, der Ihnen viel erzählen kann, um das Pferd interessant zu machen.
Die Einschätzung eines Pferdes geschieht zunächst unter den Gesichtpunkten: Charakter und Verhalten. Erst danach macht es für die meisten Interessentinnen Sinn, Ausbildungsstand und Potential zu betrachten.
Der Charakter eines Pferdes ist genetisch festgelegt. Kein Mensch und kein anderes Lebewesen “kann aus seiner Haut”. Und keiner kann sich dauerhaft verstellen, denn dies ist anstrengend. Ein “Draußen-Pferd” wird eine Reiterin mit Dressur-Ambitionen nie glücklich machen. Und ein Pferd, welches nicht gerne springt, wird beim Springen immer leiden und Ihnen wenig Freude machen.
Das Verhalten eines Pferdes dagegen ist Ergebnis seiner Sozialisierung. Ein in einer intakten Herde aufgewachsenes und mit Pferdeverstand (aus Sicht des Pferdes!) erzogenes Pferd verhält sich artgemäß. Als Reiterin brauchen Sie in solchen Fällen nicht mit “Unarten” infolge schlechter Erziehung durch unwissende, unfähige oder unwillige Menschen zu rechnen.
Testen Sie das Pferd alleine (ohne Anwesenheit von Besitzer oder Züchter)
Um sich einen Eindruck des Pferdes zu verschaffen, gehen Sie einfach alle Phasen des üblichen Umgangs mit einem eigenen Pferd durch. So spüren Sie am schnellsten und am intensivsten, ob das Pferd zu Ihnen passen könnte.
Dabei sollten Sie mit dem Pferd alleine sein. Der bisherige Besitzer oder Züchter würden mit ihrer Anwesenheit Sie und das Pferd nur stören. Für die Einschätzung des Pferdes brauchen Sie weder deren Kommentare noch Tipps, was das Pferd gewohnt ist oder was es nicht mag.
Wird Ihnen verwehrt, das Pferd alleine kennenlernen zu wollen, sollten Sie misstrauisch werden:
- Hat das Pferd erklärungsbedürftige “Verhaltens-Macken”?
- Verhält sich das Pferd nur in Anwesenheit des Besitzers / Züchters akzeptabel?
- Hält der Besitzer / Züchter Sie mit dem Pferd überfordert?
Oder was stimmt sonst nicht mit ihm? (Zu unseren Isländern können wir jederzeit auch wenig erfahrene Erwachsene und Kinder lassen, um ein Pferd halftern, freistehend zu putzen oder vom Paddock führen zu lassen)
Bedenken Sie: Ein Stück Butter zu kaufen und es wegzuwerfen, weil es nicht schmeckt, ist eine Sache. Ein Lebewesen zu kaufen ist erstens viel teurer und zweitens bei Nichtgefallen mit enormen Folgen für Sie und das Pferd verbunden.
Beobachten Sie das Pferd in seiner üblichen Umgebung
Beobachten Sie aus der Ferne, wie es sich in Stall, Box oder Einzelpaddock verhält
- Ist es gelassen aber aufmerksam oder macht es einen abwesenden Eindruck? (Vorsicht: Sedierung macht aus Krachern lammfromme Tiere; aber Sie möchten Ihr Pferd ja nicht ständig sediert halten)
- Ist es an Bewegungen und Geräuschen seiner Umgebung interessiert, ohne davon unruhig zu werden, oder bewegt es sich nervös und unsicher?
- Bleibt es ruhig, wenn Stallnachbarn weggehen, oder beginnt es durchzudrehen, wenn es alleine ist?
Beobachten Sie aus der Ferne, wie es sich in der Gruppe oder Herde verhält
- Ist es ranghoch oder rangniedrig? Ranghohe Pferde erwarten höhere Führungskompetenz von ihrer Reiterin als rangniedrige.
- Bewegt es sich innerhalb oder außerhalb der Gruppe? Rangniedrig und in der Gruppe akzeptiert zu sein ist ok – rangniedrig und ausgegrenzt zu sein ist nicht ok. Das könnte in der künftigen Gruppe ebenfalls zu Problemen führen.
- Bewegt es sich kontrolliert oder übertrieben schnell beim Weichen vor Ranghöheren? Auf einem hypersensiblen Pferd zu sitzen macht den meisten Reiterinnen keinen Spaß.
- Ist es in das Sozialleben (gegenseitige Körperpflege etc.) eingebunden?
Nehmen Sie Kontakt zu dem Pferd auf, putzen und satteln Sie es
- Gehen Sie gelassen und aufmerksam in seine Box, auf sein Paddock oder in seine Herde.
- Hat es Ihr Kommen registriert oder bemerkt es Sie nicht?
- Ist es an Ihnen interessiert oder dreht es sich weg und zeigt Ihnen seine Hinterseite?
- Kommt es gelassen, neugierig aber respektvoll auf Sie zu oder hat es nur Ihre Jackentaschen (mit Leckerlis) im Auge?
- Hält es respektvollen Abstand oder beansprucht es Ihren Standort?
- Lässt es sich streicheln oder entzieht es sich?
Halftern Sie das Pferd und führen Sie es zum Putzplatz
- Hält es beim Halftern seinen Kopf so, dass Sie es bequem halftern können? Oder hebt es den Kopf sehr hoch, senkt es ihn zu Boden oder dreht es ihn weg?
- Drängelt oder bremst es, wenn Sie es aus der Box führen?
- Lässt es sich mit leichter Hand führen? Versucht es zu überholen oder lässt es sich ziehen?
- Orientiert es sich an Ihnen und achtet es darauf, Ihnen nicht in den Weg zu laufen?
Putzen Sie es wenn möglich, ohne es fest anzubinden
- Bleibt es brav stehen oder müssen Sie es durch Anbinden am Weglaufen hindern?
- Behält es seine Position bei oder drückt es Sie zur Seite?
- Macht es Ihnen z.B. mit der Hinterhand Platz, wenn Sie es dazu auffordern?
- Hat es Stellen. Die auf alte Verletzungen hindeuten?
- Hat es Stellen, die ihm beim Putzen unangenehm sind und bei denen es sich dem Striegel / der Bürste entzieht?
- Gibt es kooperativ seine Hufe oder müssen Sie “Hufe fangen” oder “Hufe anheben” mit ihm spielen?
- Trensen und satteln Sie das Pferd
- Ziehen Sie dem Pferd das Gebiss an (wenn möglich lassen Sie das Knotenhalfter darunter, damit Sie das Pferd nicht am Zügel führen müssen)
- Nimmt es willig das Gebiss?
- Oder hebt es den Kopf weit nach oben, unten oder dreht es den Kopf weg?
Besuchen Sie mit dem Pferd Reitplatz, Reithalle, Ovalbahn und Gelände
Gehen Sie mit ihm Richtung Reitplatz.
- Wird es langsamer, hat es vielleicht schlechte Erinnerungen an den Reitplatz oder es ist vielleicht eher ein “Draußen-Pferd”
- Lassen Sie es auf dem 1. Hufschlag gehen, während Sie auf dem 2. Hufschlag gehen. Passt es sich Ihnen in Position und Geschwindigkeit an? Müssen Sie entweder mit ihm “bei Huf” gehen oder es ständig korrigieren?
- Stoppt es, wenn Sie selbst anhalten? Tritt es an, wenn Sie antreten?
- Lässt es sich von der Umgebung oder von anderen Pferden ablenken?
Gehen Sie danach in die Reithalle
- Prüfen Sie, wie sich das Pferd dort verhält.
- Machen Sie dieselben Tests wie auf dem Reitplatz.
Gehen Sie danach auf die Ovalbahn
- Prüfen, wie sich das Pferd dort verhält.
- Machen Sie dieselben Tests wie auf dem Reitplatz.
- Gibt es eigenständig Gas, sobald es auf der Ovalbahn ist? Dann ist das Pferd eher umgebungsgesteuert als auf Sie konzentriert.
Gehen Sie mit dem Pferd vom Hof weg
- Machen Sie einen Spaziergang mit ihm.
- Geht es willig mit oder signalisiert es “Lass uns zuhause bleiben”?
- Ist es gelassen, respektvoll und aufmerksam oder versucht es, hinter Ihnen her zu trotten?
- Wie reagiert es draußen auf andere Pferde, Kühe, Schafe!, Autos, Lkws, Busse, Hunde, auffliegende Vögel, Kinder auf Spielplätzen etc.
Auch wenn Sie nicht alle aufgeführten Tests und Situationen durchspielen können, so haben Sie dennoch einen relativ umfassenden Eindruck von dem Pferd, bevor Sie überhaupt daran denken, sich drauf zu setzen.
Lassen Sie sich das Pferd von Besitzer oder Züchter “erklären”
Lassen Sie sich von Besitzer oder Züchter das Pferd und sein bisheriges Leben beschreiben
- Ist der Eindruck so, dass Sie ein gutes Gefühl haben, diesem Tier Ihre Gesundheit anzuvertrauen, dann lassen Sie sich – mit dem Pferd am durchhängenden Führseil – von Besitzer oder Züchter dessen Story über sein Pferd erzählen.
- Achten Sie dabei auf Ungereimtheiten zwischen Ihren eigenen Eindrücken und der Pferde-Story.
- Nehmen Sie wahr, wie sich das Pferd verhält, während Sie sich unterhalten. Bleibt es gelassen und brav stehen oder fängt es an zu nöhlen, wie Kinder es auf langen Urlaubsfahrten im Auto tun.
Lassen Sie sich das Pferd vorreiten
- Sind Sie danach noch immer positiv bzgl. des Pferdes, lassen Sie es sich von seinem Bereiter vorreiten (am liebsten sowohl auf dem Reitplatz als auch in der Halle und ein Stück im Gelände).
- Achten Sie dabei auf Intensität und Häufigkeit der reiterlichen Einwirkungen und die (hoffentlich) harmonische Zusammenarbeit zwischen Reiter und Pferd.
- Ist der Zügel ständig angenommen oder hängt er leicht durch, ohne dass das Pferd schneller wird?
- Muss der Zügel anstehen, damit das Pferd beim Stehenbleiben nicht eigenständig losläuft?
Lassen Sie sich zeigen, wie sich das Pferd verladen lässt
- Lässt es sich ohne Helfer und Hilfsmittel verladen?
- Geht es gelassen und folgsam auf den Hänger?
- Ist es geduldig, während Heckstange und Heckklappe geschlossen werden?
- Wie verhält er sich beim Ausladen?
- Schießt es nach hinten heraus oder verlässt es auf Kommando kontrolliert den Hänger?
- Bestehen Sie darauf – wenn Sie dem Pferd aufgrund des Gesehenen vertrauen – selbst das Pferd zu verladen und wieder auszuladen.
Frühestens jetzt steigen Sie auf das Pferd !
Wenn auch dieser enorm wichtige Test erfolgreich verlaufen ist und Sie sich noch immer gut fühlen – achten Sie auf jeden Fall auf Ihr Bauchgefühl! – besteigen Sie aufmerksam und ruhig das Pferd.
Die Auskünfte von Pferdebesitzern und Züchtern, die bei dieser Prozedur nicht mitmachen, sollten Sie mit Vorsicht genießen.
Denn Sie möchten vermutlich einen gelassenen, folgsamen Partner Pferd, mit dem zusammen Sie Spaß und Entspannung haben können und bei dem Sie nach Rückkehr aus dem Gelände NICHT sagen müssen: “Gott sei Dank sind wir wieder heil auf dem Hof zurück”.
In diesem Sinne, Maria, viel Glück und Beharrlichkeit beim Pferd aussuchen.