
Pferde verstehen fällt bei dominanten, respektlosen und widersätzlichen Tieren schwer. Dennoch lässt sich das artgerechte Verhalten dieser Pferde verstehen, wenn man sich ihre Fohlen- und Jungpferdezeit betrachtet.
Myriam beklagt sich: „Meine Stute Sarina ist 3,5-jährig und eine sehr dominante Stute. Bereits auf der Fohlenweide war sie von 20 Fohlen der Chef; es gab nie jemand der ihr den Weg wies und vor allem ihr Grenzen setzte.
Mit 2 Jahren habe ich sie in den Gruppenlaufstall zu ihrer Mutter genommen, und auch hier, von 25 Pferden ist sie bereits 2. Ranghöchste. Freundin vom Chef. Sie hat keinen Respekt vor den Menschen, ist sich ihrer Kraft sehr bewusst und setzt diese meistens auch ein.
Ich kann mit ihr auch nicht vom Hof weg. Grosse Panik setzt ein, wenn sie ihre Gruppe nicht mehr sieht.“
Das ist ein typischen Verhalten für Pferde, die als Fohlen einer Leitstute aufgewachsen sind. Leitstuten-Fohlen schauen sich nämlich ab, wie ihre Mutter von den übrigen Herdenmitgliedern geachtet wird. Sie sehen von klein auf und Tag für Tag, wie die anderen Herdenmitglieder ihre Mutter respektieren und ihr folgen.
Pferde verstehen: Betrachten Sie es einmal aus Pferde-Sicht
Genauso wie Kinder ihre Eltern imitieren, ahmen auch Leitstuten-Fohlen das Verhalten ihrer Mutter nach. Sie üben mit ihren Altersgenossen und gehen wie selbstverständlich davon aus, dass diese sich genauso respektvoll und folgsam ihnen gegenüber verhalten wie es die älteren Herdenmitglieder ihrer Mutter gegenüber tun.
Und wenn sich ein Jahrgangsgenosse nicht den Regeln entsprechend verhält, geht das Leitstuten-Fohlen selbstbewusst gegen das andere Fohlen vor, wie auch seine Mutter dies bei älteren Herdenmitgliedern machen würde.
Leitstuten-Fohlen wachsen also gewissermaßen als Chef ihres Fohlen-Jahrgangs auf. Sie kennen es nicht anders, als dass sie Chef-Funktion haben und stellen diese Funktion auch nie in Frage.
Wechseln sie später in eine Jungpferdeherde, fühlen sie sich weiterhin als Leittier und verhalten sich entsprechend selbstbewusst. Die anderen Jungpferde denken: Wer sich so verhält, muss wohl der Chef sein und sie verhalten sich als respektvolle Herdenmitglieder.
Probleme gibt es nur, wenn zwei ehemalige Leitstuten-Fohlen in einer Jungpferde-Herde aufeinandertreffen. Dann ist eine Rang-Streitigkeit unausweichlich und am Ende heißt es für den Unterlegenen, die bisherige Chef-Rolle aufgeben zu müssen. Für manche Pferde bricht dabei die Welt zusammen und sie brauchen lange Zeit, um sich mit der neuen ungewohnten Lage abzufinden.
Kluge Pferde erholen sich schnell von dieser “Niederlage” und akzeptieren ihre neue Rolle. Schließlich bedeutet es weniger Arbeit, wenn man nicht als Ranghöchster für die Sicherheit der Herde sorgen und sie im Ernstfall verteidigen muss.
Leit-Pferd trifft Leit-Mensch: Einer muss “Menschen verstehen”, der andere “Pferde verstehen” lernen
Wenn sich ein Pferd, das sein Leben lang als Leittier gelebt hat, plötzlich einem Menschen unterordnen und ihm folgen soll, dann müssen Mensch und Pferd genau dieselbe Rangstreitigkeit austragen, wie die oben erwähnten beiden Leitstuten-Fohlen, die in einer gemeinsamen Herde aufeinandertreffen.
Dass Leitpferde aus Sicht des Menschen als dominant, respektlos und widersätzlich erscheinen liegt nicht am Pferd, sondern an dem fehlenden Verständnis des Menschen. Wer glaubt, ein stolzes, führungsstarkes und führungserfahrenes Pferd mit Liebe, Leckerli oder einigen faulen Tricks zum folgsamen Partner machen zu können, der irrt sich gewaltig.
Der Mensch muss sein Pferd durch sein Einfühlungsvermögen, seine Führungsqualitäten, seine Durchsetzungsbereitschaft und sein Durchhaltevermögen davon überzeugen, dass es für das Pferd keine Schande ist, diesem zweibeinigen Leittier zu gehorchen und zu folgen. Das ist mitunter ein schwieriger und langwieriger Prozess – aber er lohnt den Aufwand.
Ist das Pferd von seinem Menschen überzeugt, dann lässt es sich auch problemlos vom Hof wegführen oder wegreiten. Denn es ist nicht mehr in der Leittier-Rolle die ihm vorschreibt, seine Herde nicht alleine zurück zu lassen. Ohne die Last dieser Verantwortung, die ihm sein Mensch abgenommen hat, kann es sich wie ein ganz normales Herdenmitglied verhalten.
Wenn Sie diese Sichtweise akzeptieren, wird Ihnen das Pferde verstehen bei vordergründig dominant, respektlos und widersätzlich erscheinenden Tieren viel leichter fallen. Bei entsprechendem Umgang werden Sie in solchen Pferden mutige, selbstlose, selbstbewusste und zuverlässige Partner finden.